Gendermedizin kann Leben retten!

Gendermedizin: Menschen auf der Straße
© Unsplash/ mauro mora

Männer und Frauen sind unterschiedlich – auch was Erkrankungen und Medikamente betrifft. Trotzdem werden in der Medizin die Unterschiede oft vernachlässigt. Wie wichtig geschlechtssensible Medizin ist, erklärt Frau Dr. Schmid-Altringer im femeda-Interview.

Frauenherzen schlagen anders!

Zuerst ein kleines Beispiel: Frauen haben bei Herzinfarkten ein höheres Sterberisiko als Männer. Das liegt daran, dass bei der Diagnose oft vor allem auf die männertypischen Symptome geachtet wird. Bei einem Herzinfarkt kann das schwerwiegende Folgen haben.

Herzinfarkt bei Frauen

Genau hier setzt die geschlechtssensible Medizin oder Gendermedizin an.

Warum Frauen oft eine andere Behandlung benötigen und, wie wichtig Gendermedizin ist, erklärt Ärztin und Wissenschaftsjournalistin Dr. Stefanie Schmid-Altringer im femeda-Interview:

Gendermedizin, was ist das eigentlich?

Die geschlechtssensible Medizin oder wie sie auch heißt die Gendermedizin ist ein relativ junges Fachgebiet der Medizin, die sich damit beschäftigt, was die Unterschiede zwischen Männern und Frauen für Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Und das betrifft sozusagen das ganze Spektrum, also nicht nur, wie unterschiedlich Mann und Frau krank sind, sondern auch was bei Prävention, Vorbeugung und Diagnostik berücksichtigt werden sollte.

 

In der Gendermedizin gehört es immer dazu, nicht nur das biologische Geschlecht zu sehen (das wird im Englischen übrigens sex genannt), sondern auch die psychische und soziale Komponente von Erkrankungen. Und das meint zum Beispiel den Faktor Armut. Denn Armut ist weiblich, auch heute noch in Deutschland. Genauso wie Gewalterfahrung eine typische weibliche Lebenserfahrung ist, die wir in die Medizin miteinbeziehen müssen.

Und welche Ziele verfolgt die geschlechtssensible Medizin?

Die Gendermedizin beginnt in der Forschung. Das heißt die Bereitstellung von Studien und handfesten Daten, die Unterschiede zwischen Frauen und Männern erfassen.

Diese statistischen Aussagen bieten mir eine Grundlage, auf der ich jede einzelne Frau und jeden einzelnen Mann gezielter behandeln kann.

Ein Beispiel: Typ I Diabetikerinnen entwickeln sehr häufig nach der Geburt ihrer Kinder weitere Autoimmunerkrankungen zum Beispiel der Schulddrüse. Indem ich das weiß, kann ich bei Müttern mit Diabetes nach der Geburt stärker darauf achten, dasselbe trifft auch auf Männer in anderen Kontexten zu.

Geschlechtersensible Versorgung geht aber noch weiter.

Ein weiteres Beispiel: Nach einem Herzinfarkt wird heute meist eine stationäre Reha angeboten, die für beide Geschlechter sehr sinnvoll ist. Viele Frauen mit einem Herzinfarkt haben aber einen Partner zuhause, den sie versorgen möchten oder Kinder. Sie nehmen deshalb dieses so wichtige Angebot für die Gesundheit nicht in Anspruch.

Die Gendermedizin sieht, dass wir andere Konzepte brauchen, eben zum Beispiel für eine kardiologische Reha, die ambulant ist und zur Lebenssituation von Frauen passt.

Welches Potential hat Gendermedizin?

Gendermedizin hat aus meiner Sicht könnte eine Gesundheitsrevolution zu sein, weil sie tatsächlich auf Unterschiede aufmerksam macht, die Leben retten können und die letztlich auch für unser Versorgungssystem unglaubliches Einsparpotential haben.

„Gendermedizin ist ein guter Weg zu einer personalisierten oder individuellen Medizin.“

Vielleicht ein Beispiel, was mich immer wieder sehr schockiert: Wenn jemand auf der Straße mit einem Herzinfarkt umfällt und sozusagen klinisch tot ist, hat man gesehen, dass die Reanimation bei Frauen deutlich seltener durchgeführt wird als bei Männern. Das ist unglaublich.

Was hat die Gendermedizin bisher schon erreicht?

Es wurde schon viel erforscht, aber dieser ‚Wissensschatz‘ ist noch lange nicht in der Praxis der medizinischen Versorgung angekommen. Nach wie vor denkt und behandelt die Medizin Patienten, nicht Männer und Frauen. Das Wissen ist also vorhanden, aber wir profitieren in der Praxis noch nicht davon.

Woran liegt das?

Zwei Drittel der Student*innen, die ein Studium der Medizin beginnen, sind Frauen, aber weniger als 10 Prozent der Lehrenden sind weiblich. Die Leitungsebene von Kliniken und Gremien, die Guidelines erstellen, sind überwiegend männlich dominiert. Da wundert es nicht, dass die Medizin die männliche Perspektive beibehält.

Sicherlich ist es für Männer schwer nachzuvollziehen, wie sich das Frauenleben anfühlt. Hier müssten Frauen als Führungskräfte stärker einbezogen werden oder sich mehr einbringen. Am besten beides.

Was muss sich ändern?

Wir brauchen andere Strukturen. In Deutschland haben wir nur sieben Unis, die ein Wahlpflichtfach Gendermedizin anbieten, wir haben für fertige Ärztinnen und Ärzte keine Ausbildungs- und Fortbildungsmöglichkeiten in der Gendermedizin. Wie soll sich also etwas ändern, woher sollen Ärztinnen und Ärzte mehr über Gendermedizin lernen, wenn es nirgendwo angeboten wird. Und das ist ein Skandal.

„Ich glaube, dass die Zeit reif ist für eine Medizin die Frauen genauso berücksichtigt wie Männer.“

Aber: Frauen sollten ihre Gesundheit nicht nur an das Medizinsystem delegieren, sondern müssen auch selbst aktiv werden.

Was können Frauen selbst tun?

Frauen müssen informiert sein. Es ist unglaublich, wie groß das mediengesteuerte „Halbwissen“ ist und wie wenig Frauen über ihren Körper wirklich Bescheid wissen.

Ein Beispiel aus der Menopause: Angeblich nehmen Frauen nach der Menopause einfach so zu. Eigentlich steckt aber durch das sinkende Östrogen eine veränderte Zuckerverwertung dahinter. Das bedeutet, wenn Frauen genauso wie vor den Wechseljahren essen, nehmen sie zu. Hier setzt die Gendermedizin an und rät den Frauen aus dem Wissen über diese typischen Veränderungen die Ernährung rechtzeitig umzustellen und dadurch Übergewicht vorzubeugen.

Stoffwechsel in den Wechseljahren

Frauen sollten über ihren Körper informiert sein. Jedoch bedarf es auch einem Umdenken.

Ein Umdenken?

Ja, Frauen sollten sich selbst und ihre Beschwerden ernstnehmen.

Frauen neigen dazu, bei Schmerzen sofort ein Schmerzmittel zu nehmen. Viele jungen Frauen haben heute Ibuprofen in der Handtasche, um damit Menstruationsschmerz, Kopfschmerz etc. schnell beseitigen zu können.

Was hilft bei Regelschmerzen?

Dieses Schmerzmittel hat aber nicht ungefährliche Nebenwirkungen. Wichtig wäre Schmerzen auch als Signal zu verstehen und zu hören, was sagt mir das denn, wenn ich jetzt im Job auf einmal eine Migräne bekomme, was ist denn los bei mir?

Noch ein Beispiel: Junge Frauen haben oft Schmerzen bei den Tagen, starke Schmerzen. Was passiert? Die Frauen bekommen Schmerzmittel oder die Pille verschrieben, damit die Schmerzen aufhören. Dabei wurde möglicherweise eine Endometriose übersehen. Irgendwann wird die Pille abgesetzt und man stellt fest: Die Endometriose ist fortgeschritten und verursacht ein Problem mit der Fruchtbarkeit.

Frauen müssen ihre Symptome also ernst nehmen und sich fragen: „Was brauche ich – was ist gesund für mich?“  und dies ihren Ärzt*innen auch mitteilen. Dann bekomme ich automatisch eine andere Medizin.

Frauen sind in Medikamentenstudien oft unterrepräsentiert – woran liegt das?

Lange Zeit wurde argumentiert, dass man nicht an Frauen testen will, weil sie schwanger sein könnten und einen Menstruationszyklus haben, der die Ergebnisse verfälscht. Meiner Meinung nach ist das Unsinn: Viele Beschwerden, für die Frauen Medikamente einnehmen, treten auf, wenn Frauen in der Menopause sind und das Kinderthema erledigt ist.

Frauen aus den Studien auszuschließen ist meines Erachtens nach eine Art Ausrede. Es wäre teurer, an Männern und Frauen zu testen und Mediziner müssten natürlich auch das Doppelte lernen.

Aktuell arbeiten Forschung und Praxis so:

Wir haben männliche Mäuse als Versuchstiere und wir haben meist männliche Probanden. Und die Ergebnisse dieser Studien werden auf Frauen übertragen – mit der Folge, dass wir eine zu hohe oder falsche Dosierung haben oder Wechselwirkung (zum Beispiel mit der Pille oder mit Sexualhormonen) nicht erkennen.

Welche Auswirkungen kann das haben?

Erstmal vorweg: Frauen haben doppelt so oft Nebenwirkungen von Medikamenten und bei Frauen kommt es öfter zu Überdosierungen.

Ein Beispiel, das ich sehr krass finde – Schlafmittel: Schlafmittel werden oft bei Frauen zu hoch dosiert. In einer Studie konnte man nachweisen, dass die Zahl der Verkehrsunfälle bei Frauen am Tag nachdem sie Schlafmittel genommen haben deutlich höher ist als bei Männern. Genauso ist es bei Beta-blockern gegen Bluthochdruck oder Medikamente bei Angststörungen: Hier brauchen Frauen meist eine niedrigere Dosierung.

„Frauen sind häufiger medikamentenabhängig und bekommen deutlich häufiger Psychopharmaka verschrieben als Männer.“

Ich wage mal zu sagen, dass Frauen nicht deutlich mehr psychische Erkrankungen als Männer haben. Vielleicht reden Frauen beim Arzt mehr über Gefühle – egal woran es liegt, Frauen bekommen mehr davon verschrieben und das ist nicht in Ordnung.

Seit 2004 gibt es eine Empfehlung in Deutschland, die besagt, dass neue Medikamente an Frauen und Männern getestet werden sollten. Wie sieht die Realität aus? 

Das ist schon mal ein guter Schritt, dass wir eine solche Empfehlung haben. Jedoch sollte bei Medikamentenstudien nicht nur Mann und Frau als Kategorien einbezogen werden. Die biopsychosozialen Faktoren, Lebensphasen und Co. sollten auch mit untersucht werden.

Können Männer auch von der Gendermedizin profitieren?

Ja auf jeden Fall – Gendermedizin hilft auch Männern!

Inwiefern?

Das, was wir beim Herzinfarkt gesehen haben, das betrifft bei Männern die Depression. Niedergeschlagenheit und Antriebsarmut sind typische Symptome für eine Depression. Bei Männern macht sich eine Depression aber oft auch durch Symptome wie Nervosität und Reizbarkeit bemerkbar. Außerdem neigen Männer hier eher dazu, die Symptome mit Alkohol zu dämpfen.

Osteoporose ist auch ein gutes Beispiel: Bisher haben wir in Deutschland nur ein Screening für Frauen, aber ein großer Teil von Männern ist auch betroffen.

Ich glaube es ist ganz wichtig, dass die Männer lernen, mehr über ihre Erkrankung und ihre Probleme zu reden.

„Eine gute, klare Kommunikation ist etwas, das in der Medizin aktuell zu wenig gefördert wird, aber durch die Gendermedizin erreicht werden könnte.“

© Dr. med. Stefanie Schmid-Altringer

Buch-Tipp:

Gendermedizin – Warum Frauen eine andere Medizin brauchen

Frauenkörper sind anders als Männerkörper. Kein Wunder, dass sie entsprechend oft andere Krankheiten (z.B. Rheuma oder Osteoporose) entwickeln als Männer. Aber selbst bei gleicher Krankheit sind Risikofaktoren, Symptome und das Ansprechen auf Medikamente nicht immer identisch. Warum ist das so? Welche medizinischen Unterschiede lassen sich eindeutig belegen?

Die renommierten Autorinnen Prof. Dr. med. Vera Regitz-Zagrosek und Dr. med. Stefanie Schmid-Altringer erklären anschaulich, warum wir eine geschlechtersensible Medizin brauchen. (Scorpio Verlag, 22 Euro)

© Scorpio Verlag

Dr. Stefanie Schmid-Altringer:

„Frauen sollten nicht länger warten, sie sollten die Gendermedizin selber in die Hand nehmen. Das Potenzial ist da, aber ohne, dass Frauen darauf zugehen, können sie noch sehr lange darauf warten, bis sie die richtige Medizin bekommen. Deshalb ist der erste Schritt sich zu informieren. Dafür haben wir das Buch gemacht, das hat 2 Hälften: Die eine Hälfte ist spannend und amüsant zu lesen – leichter zu lesen, im guten Sinne wie ein Frauenmagazin. Die zweite Hälfte führt alle Krankheiten und Organsysteme auf. Da kann ich nachschlagen, wenn ich was an der Niere habe, wenn ich Bluthochdruck habe und kann gucken, worauf muss ich denn noch achten.“